Vor einer Weile habe ich mir auf YouTube ein Video von Orion Kelly angeschaut, der selbst Autist ist und mit seiner Arbeit anderen Autist:innen helfen will. In dem Video ging es unter anderem darum, dass Kellys 10-jähriger autistischer Sohn in der Schule ein Referat halten sollte. Ein neurotypischer Mitschüler sollte ihn dann anhand von einem Fragebogen bewerten. Die ersten Kriterien seien so etwas gewesen wie „Er hält Blickkontakt und lässt sich auf das Publikum ein“ oder „Er spricht in angemessenem Tempo“. Erst am Ende sei der Satz gestanden: „Er hat über das Thema im Detail gesprochen und gezeigt, dass er wirklich Ahnung davon hat.“ Mal abgesehen davon, dass es nicht die eine Erfahrung oder Wahrnehmung gebe und so eine Bewertung sowieso immer subjektiv sei, scheine es, als sei das äußere Auftreten wichtiger als die Tatsache, dass jemand bestens über ein Thema Bescheid wisse und sein Wissen an andere weitergeben könne.
Autist:innen treten jedoch meist nicht über Blickkontakt oder Körpersprache in Kontakt mit anderen Menschen, sondern indem sie beispielsweise von einem Thema erzählen, für das sie sich begeistern. Ein Autist, der nicht maskiert, wird bei einem Referat keinen Blickkontakt mit seinem Publikum halten, ist dafür aber Profi in dem Thema, das er zuvor ausführlich recherchiert hat. Es macht also einfach keinen Sinn, ein autistisches Kind nach Kriterien zu bewerten, die für Autisten nicht entscheidend sind. Aber durch die schlechte Bewertung im Fragebogen, bekommt das Kind das Gefühl, dass es etwas falsch gemacht hat, obwohl es sich einfach nur natürlich verhalten hat. Man bekommt also von klein auf die Message aus der neurotypischen Welt: „Pass dich uns an oder du bist falsch.“
Mich erinnerte das Beispiel an meine eigene Schulzeit. In Deutsch hatte ich oft das Feedback bekommen, dass meine Arbeiten zu kurz und knapp seien, und ich es noch mehr ausformulieren solle. Also hatte ich angefangen, zu dem, was mir in den Sinn gekommen war, gezwungen noch irgendetwas hinzuzufügen – nur damit der Text länger wurde. Aber braucht es wirklich immer so viel „drumherum-Gelaber“? Ist es manchmal nicht effektiver, einfach auf den Punkt zu kommen? Vermutlich ist das Ansichtssache oder Geschmackssache… Aber wenn ein autistisches Kind einen neurotypischen Lehrer hat (und die Wahrscheinlichkeit hierfür ist sehr hoch), dann lernt es von Anfang an, dass seine Art zu schreiben nicht okay ist.
Ein anderes Beispiel: ein Mathelehrer von mir hatte beim Elternsprechtag darauf hingewiesen, dass ich mehr Fragen stellen solle. Eigentlich hatten das fast alle Lehrer immer gesagt. Mir waren aber im Unterricht meistens gar keine Fragen eingefallen, weil mein Gehirn damit beschäftigt gewesen war, die ganzen Reize und Informationen zu verarbeiten. Und selbst wenn, hätte ich mich vermutlich nicht getraut, mich zu melden und vor der ganzen Klasse zu fragen. Bei besagtem Mathelehrer hatte ich mich irgendwann am Ende einer Stunde gezwungen, ihn doch noch etwas zu fragen. Eigentlich nicht, weil es mich interessiert hatte, sondern nur weil ich eine Frage stellen hatte wollen. Während er es mir erklärt hatte, war ich so darauf konzentriert gewesen, Blickkontakt zu halten und möglichst interessiert zu wirken, dass ich von der Antwort nicht viel mitbekommen hatte und hinterher auch nicht schlauer gewesen war als vorher. Aber Hauptsache, ich hatte eine Frage gestellt, damit der Lehrer zufrieden war.
Das sind vermeintliche Kleinigkeiten, die, wenn sie sich aufsummieren, eine gar nicht so kleine Wirkung haben. Orion Kelly erzählte am Ende seines Videos, dass sein Sohn ihn gefragt habe: „Hattest du jemals das Gefühl, dass du nicht hier hergehörst?“ Darauf habe er seinen Sohn gefragt: „Ist das das, was du fühlst?“ Dieser habe bejaht. Der Vater habe wissen wollen, was er genau fühle, und sein 10-jähriger Sohn habe gesagt: „Mein Verstand sagt mir, ich gehöre nirgends hin. Nicht hier, nicht sonst irgendwo. Ich fühle mich nirgendwo zugehörig. Und mein Verstand sagt mir, vielleicht sollte ich tot sein.“ Orion Kelly habe das Gefühl seines Sohnes zu hundert Prozent nachempfinden können. Wie soll es auch anders sein, wenn man in unserer Gesellschaft schon als Kind Erfahrungen macht, die solche Gefühle auslösen – wobei die hier erwähnten ja nur ein paar wenige Beispiele von vielen sind.
Mich hat das Video komplett getroffen – weil ich gemerkt habe, dass ich genau das gleiche fühle. Ein Mitglied unserer Selbsthilfegruppe hatte das Video geteilt und nachdem ich es zu Ende geschaut hatte, schrieb ich ihm eine Nachricht: „Dein Video hat mich gerade sehr getroffen.“ Seine Antwort war: „Ich habe am Ende tatsächlich geweint…“ Woraufhin meine Antwort war: „Ich auch.“ Und da fiel mir auf, dass es irgendwie beruhigend war, mit dem Gefühl nicht allein zu sein. Wenn man sich auf der Welt fehl am Platz und nicht zugehörig fühlt, aber mit Menschen in Verbindung ist, die das gleiche fühlen, dann hat man irgendwie doch wieder eine Art Zugehörigkeitsgefühl – auch wenn das vielleicht paradox zu sein scheint.
Das kann jedoch nur entstehen, wenn man weiß, dass man im Autismus-Spektrum ist. Erst dann kann man bewusst den Kontakt mit Gleichgesinnten suchen. Solange man unbewusst maskierend mit seiner antrainierten Rolle durch das Leben läuft und keinen Zugang zu sich selbst hat, kann man auch keine Verbindung zu anderen Menschen aufbauen, denen es tief im Inneren sehr ähnlich geht. Doch genau das ist so unglaublich viel wert – denn in erster Linie sind es die echten Verbindungen mit anderen Menschen, die das Leben schöner oder zumindest erträglicher machen.
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