„Ok. Also ich nehme es jetzt schon mal vorweg: wir konnten die Diagnose verifizieren“, begann der Psychotherapeut das Abschlussgespräch nach ein paar einleitenden Sätzen. Kurze Pause. „Wie geht’s Ihnen jetzt damit? Was macht das mit Ihnen? Sind Sie erleichtert?“ Im ersten Moment machte es irgendwie nicht so viel wie erwartet mit mir. „Ich bin erleichtert, dass wir der gleichen Meinung sind. Weil sonst würde ich jetzt sehr an meiner Wahrnehmung zweifeln.“ Er schmunzelte. „Und ich merke aber auch, dass es gerade keine große Überraschung ist. Aber ja, ich bin schon erleichtert. Aber es kommt wahrscheinlich später erst wirklich an.“ Er betonte gleich, dass ich nicht falsch sei, sondern Autismus angeboren sei. Und es sei nicht heilbar, aber behandelbar. Der folgende Satz traf mich: „Es ist nicht zu behandeln wie eine Sozialphobie, nach dem Motto ‚Fahren Sie mal ein bisschen öfter in die Stadt‘ oder ‚Gehen Sie mal öfter unter Leute‘.“ „Genau so hat es meine Therapeutin damals immer dargestellt!“, platzte es aus mir heraus. „Das war dann falsch behandelt.“ Das von einem Experten zu hören, war eine Riesen Erleichterung – und Bestätigung. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, falsch zu sein, weil ich mich (gezwungenermaßen) so viel zurückzog. Dieses Gefühl hatte er mir damit genommen. In der Therapie damals hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass es neben den tiefenpsychologischen Aspekten darum ging, dass ich aktiver werden sollte, um mich meiner Angst zu stellen – und das Wort „Sozialphobie“ war auch einmal gefallen. Aber es hatte sich nie 100% richtig für mich angefühlt und außerdem hatte ich es unfair gefunden. Ich wollte ja mehr unter Menschen gehen, und sobald ich das getan hatte, war die Angst sehr schnell kein Thema mehr gewesen – aber jedes Mal war ich früher oder später komplett ausgelaugt gewesen, sodass nur noch Rückzug möglich gewesen war.
Nachdem er mir die verschiedenen Kategorien, nach denen die Diagnose gestellt wurde, und wie ich darin jeweils abgeschnitten hatte, erklärt hatte, war noch Zeit um Fragen zu stellen. Ich fing mit der wichtigsten an: „Durch den ganzen Diagnostik-Prozess ist mir umso mehr bewusst geworden, was für Schwierigkeiten ich schon mein Leben lang habe und dass ich mich immer irgendwie durchkämpfen musste.“ Bei dem Wort ‚durchkämpfen‘ kam zum ersten Mal der Kloß in meinem Hals zum Vorschein. „Und ich habe einfach keine Lust… und keine Kraft mehr…“ Ich musste kurz pausieren, um nicht gleich loszuheulen. „…immer eine Rolle zu spielen.“ Das brachte ich gerade noch hervor. Dann hielt ich kurz inne und sagte dann, mit den Tränen kämpfend: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich so emotional werde.“ Ich riss mich zusammen, um die Frage zu Ende zu stellen. „Aber gleichzeitig will ich auch nicht immer unhöflich oder abweisend wirken, und irgendwie dazugehören. Aber es fällt mir schwer, da einen Mittelweg zu finden… vor allem, weil Mittelwege ja generell nicht so mein Ding sind.“ Bei dem letzten Satz schmunzelte er wieder. „Haben Sie da einen Rat?“ „Transparenz“, lautete seine erste Antwort. „Kommunizieren Sie ihrem Umfeld ihre Bedürfnisse; erklären Sie, wie es Ihnen in bestimmten Situationen geht; setzen Sie Grenzen. Sie brauchen eine Umgebung, die sich Ihnen anpasst. Wichtig ist, dass Sie sich nicht noch mehr verbiegen, weil das kostet Sie zu viel Kraft.“ Bei dem letzten Satz hätte ich direkt wieder losheulen können und kämpfte im weiteren Verlauf des Gesprächs eine Weile mit den Tränen.
Wir redeten noch über das Thema Berufsleben und über den Zusammenhang von Autismus und Erschöpfungssymptomen. Jedenfalls hatte ich die Hoffnung, dass sich mein Gesundheitszustand umso mehr verbessern würde, je mehr ich mein Leben Autismus-gerecht gestalten würde.
Nach dem Gespräch brach ich in Tränen aus. Sowohl der Psychotherapeut als auch der Diagnostiker hatten mir während der Diagnostik das Gefühl gegeben, dass ich mich authentisch zeigen durfte und mich nicht verbiegen musste, ohne Angst haben zu müssen, dafür verurteilt zu werden. Allein das war eine unglaublich wertvolle Erfahrung für mich gewesen! Ich hatte mich zum ersten Mal wirklich verstanden gefühlt und hatte das Gefühl gehabt, als der Mensch gesehen, respektiert und behandelt zu werden, der ich war.
Wie groß die Erleichterung wirklich war, kam erst in den folgenden Tagen zum Vorschein. Ich konnte immer noch nicht ganz glauben, dass ich jetzt – nachdem ich mich über ein Jahr mit dem Thema Autismus beschäftigt hatte – den Hintergedanken in meinem Kopf „Was, wenn ich mir alles nur einbilde?“ endgültig loslassen konnte. Es fiel eine riesige Last von mir ab, die ich mein Leben lang mit mir herumgetragen hatte, ohne es zu wissen. Die Diagnose war für mich persönlich die offizielle Erlaubnis, „komisch“ sein zu dürfen, mich nicht mehr permanent verbiegen zu müssen und entsprechende Grenzen zu setzen, um nicht dauerhaft unter Stress zu stehen. Die Erlaubnis, Ich sein zu dürfen, ohne die ständige Angst, dafür verurteilt zu werden. Die Erlaubnis, Ich sein zu dürfen, ohne mich falsch zu fühlen. Es war, als würde auf der Diagnose-Bescheinigung dick und fett stehen: Du bist okay so wie du bist. Es war wie Weihnachten, Ostern, Geburtstag und Sommerferien gleichzeitig. Oder noch besser: Es war, als hätte ich endlich meinen Brief aus Hogwarts bekommen.
Doch wie sich sehr bald herausstellte, war die große Erleichterung nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite kam das ewige Gefühl, falsch zu sein, trotzdem wieder hoch. Verbunden mit der Trauer darüber, dass das Leben für mich immer ein außergewöhnlicher Kraftakt gewesen war und immer bleiben würde, dass ich gezwungenermaßen viel Zeit allein verbringen müsste, und dass ich mich in sozialen Situationen wohl immer fehl am Platz und nicht wirklich zugehörig fühlen würde - weil ich offensichtlich daran gescheitert war, mich ausreichend zu verbiegen, um „normal“ zu werden (ein Vorhaben, das natürlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war, aber das hatte ich bis vor kurzem ja nicht gewusst). Im Laufe der folgenden Wochen zeigten sich außerdem Schuldgefühle, dass ich so war wie ich war; dass ich anderen Menschen nicht mehr Zeit widmen konnte; dass ich Menschen ungewollt verletzte, weil ich eine andere Art hatte zu kommunizieren.
In den ersten Monaten nach der Diagnose kam der autistische Burnout umso mehr zum Vorschein und damit verbunden depressive Stimmung aufgrund der Tatsache, dass ich trotz meines Briefes aus Hogwarts in der Muggel-Welt weiterleben und irgendwie klarkommen muss. Das zu akzeptieren, dauert eine Weile. Was mir hilft, sind Dokus, Podcasts und Bücher über andere Autist:innen oder allgemein über die Themen Autismus und autistischer Burnout - um daran erinnert zu werden, dass ich nicht allein bin. Unglaublich viel wert ist auch der Austausch mit Gleichgesinnten und die Selbsthilfegruppe, der ich mich zwei Wochen nachdem ich meine offizielle Diagnose erhalten hatte, anschloss - das einzige soziale Umfeld, in dem ich mich nicht fehl am Platz fühle.
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