Vier Leben

Veröffentlicht am 6. Oktober 2025 um 11:51

Lange Zeit war mein Leben das genaue Gegenteil von dem, was Bosse in seinem Lied „Vier Leben“ beschreibt. Aber sobald es gesundheitlich bergauf geht, will ich am liebsten alles auf einmal machen – schreiben, in der Natur sein, Sport machen, backen, lesen, musizieren. Ich habe das Gefühl, ich muss die letzten neun Jahre nachholen. Ich will schließlich noch leben bevor ich sterbe. Der Tag hat auf einmal nicht mehr zu viele Stunden, sondern zu wenig.

Aber was nützt es mir, wenn ich jetzt durch mein Leben renne, um möglichst viel zu schaffen, möglichst viel zu erleben? Zum einen ist es dann nur eine Frage der Zeit bis ich mit allem überfordert bin, zum anderen würde ich in neun Jahren vermutlich wieder das Gefühl haben, die letzten neun Jahre nachholen zu müssen – weil ich nicht wirklich hier gewesen bin. Also bin ich lieber so präsent im Jetzt wie nur möglich, um jeden einzelnen Moment voll zu leben. Ganz nach dem Motto: weniger ist mehr.

Genau genommen muss ich die letzten neun Jahre auch gar nicht nachholen – denn mein Leben war genau so richtig wie es war. Ohne die letzten neun Jahre wäre ich heute nicht die, die ich bin. Die Erfahrungen sind ein Teil meines Weges, und zwar ein sehr wertvoller. Auch stimmt es bei genauerer Betrachtung nicht, dass ich in dieser Zeit gar nicht gelebt habe. Ich muss an die unzähligen Momente von „The Voice of Germany“ oder „Sing meinen Song“ denken, die mich tief berührt haben; wie oft mich „The Big Bang Theory“ zum Lachen gebracht hat; wie ich mich jedes Jahr über die neue Bergretter Staffel gefreut habe, weil ich die Serie seit 16 Jahren schaue und sie sich nach daheim anfühlt; die vielen Songs, die ich gehört habe, um mich wieder aufzubauen, mich aus depressiven Löchern herauszuholen, mich zum weitermachen zu motivieren; wie ich mit Schokolade gedopt abends bei aufgedrehter Musik durch die Wohnung getanzt bin; oder die Wolkenformationen und Sonnenuntergänge, die ich vom Fenster aus beobachtet habe. All diese Dinge haben mir oft den Tag gerettet und ich habe sie meistens eher als Schadensbegrenzung wahrgenommen. Doch obwohl ich Natur und Sport eindeutig einer Serie vorziehe, wenn ich die Wahl habe, waren es Dinge, die ich gerne mag und auf die ich nicht hätte verzichten wollen.

Das einzige, was es im Leben wirklich nachzuholen gäbe, sind die Momente, in denen man nicht voll und ganz präsent war, sondern nur unbewusst durch gehetzt oder durch gerannt ist, um zum nächsten Moment zu kommen – so als hätten wir vier Leben.

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